Thomas Merton (1915-1968) schreibt als Trappistenmönch nicht nur über 60 Bücher, sondern verfasst auch Protesterklärungen gegen die Politik der amerikanischen Regierung, gegen Krieg und Aufrüstung. Je mehr er in die Kraft der Stille eintritt, umso mehr mischt er sich ein und protestiert gegen die wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Je mehr er Christ wird, umso mehr sucht er das Verbindende mit anderen Religionen, vor allem mit dem Buddhismus. So sagt er über den buddhistischen Mönch und Zen-Meister Thich Nhat Hanh, ein international engagierter Friedensaktivist aus Vietnam, der seit 1973 in einer buddhistischen Ordensgemeinschaft in Frankreich lebt: »Thich Nhat Hanh ist mein Bruder. Wir sind beide Mönche, und wir leben beide etwa gleich lange in einer klösterlichen Gemeinschaft. Wir sind beide Dichter und Existenzialisten. Mich verbindet weitaus mehr mit Nhat Hanh als mit vielen Amerikanern.« Worte, die er schreibt während des gemeinsamen Friedensengagements angesichts der Katastrophe des Vietnamkrieges. Die Eltern von Thomas Merton sind beide Künstler, er verliert sie und seinen einzigen Bruder sehr früh, was ihn die Heimatlosigkeit des Lebens erfahren lässt. Drei Jahre nach seinem Studium der englischen Literatur wagt er sich in die Radikalität des Trappistenklosters Gethsemani in Kentucky, um auch bei sich selbst, in Gott zu Hause sein zu können. 1948 - mit 33 Jahren! -veröffentlicht er seine spirituelle Reise in seiner Autobiografie »Der Berg der sieben Stufen«, die zum Bestseller wird. Er wird weltweit berühmt.
»Heilig werden heißt ich selbst werden«, ist eines seiner Lebensmotive, das sich auch in seiner Konfliktfähigkeit ausdrückt, die vor allem in seinen vielen Briefen aufscheint. Da begegne ich einem ehrlichen Menschen, der seine Zweifel, seine internen Auseinandersetzungen im Kloster, seine Kritik an der Kirche und sogar sein Verliebtsein mit 50 Jahren nicht versteckt. Sein Leben und Wirken befreit uns alle, die Angst vor unseren Stärken zu verwandeln. Er umschreibt diese zentrale Lebensaufgabe so: »Vielleicht bin ich stärker, als ich denke. Vielleicht fürchte ich mich vor meiner Stärke und wende sie gegen mich selbst, um mich selber schwach zu machen. Vielleicht fürchte ich am meisten die Stärke Gottes in mir.«
Die Begegnung mit der »Stärke Gottes in mir« ist nicht nur - wie viele meinen - ein innerer Halt, ein Aufgehobensein, sondern auch ein Überwältigtsein, ein Erschrecken, ein Kampf. Darum findet sich auch in mystischen Schriften das Motiv des Kampfes zwischen Jakob und Gott, wie es im ersten Buch der Bibel, in Genesis 32,2333, aufgeschrieben ist. Jakob verlässt hinkend diese Begegnung, was schon Papst Gregor den Großen (540-604) schreiben ließ: »In uns, die wir ehemals, gleichsam auf beiden Füßen stehend, Gott suchen und zugleich an der Welt festhalten zu können meinten, bleibt nach der Erkenntnis von Gottes Süßigkeit der eine Fuß gesund, während der andere hinkt.« Diese tiefsinnige Lebensweisheit will ich verinnerlichen, indem ich mich alltäglich verabschiede von der lebensuntauglichen Einseitigkeit, nur »Gottes Süßigkeit« zu erfahren. Sie wird mir noch mehr geschenkt, wenn ich auch der Härte und dem Dunkel dieser Welt nicht ausweiche.
Thomas Merton hat dies in seiner selbstkritischen Art und Weise aufgezeigt. Er schreibt in einem seiner vielen Tagebücher: »Die Welt ist schrecklich, Menschen fallen entzwei und sterben vor Hunger und erfrieren und fahren in Verzweiflung zur Hölle, und ich sitze hier mit einem silbernen Löffel in meinem Mund, schreibe Bücher, und jedermann sendet mir Fanpost und sagt mir, wie wunderbar es von mir ist, so viel aufzugeben. Und was, so möchte ich sie fragen, habe ich denn aufgegeben außer Kopfschmerzen und Verantwortung?« Diese Bereitschaft zu einer inneren Konfliktfähigkeit verbindet mit der Seite der Zerrissenheit, die alle ehrlichen Menschen kennen. Das authentische Eingestehen von Zweifeln ist auch ein Versöhnungszeichen, weil mir dadurch aufgezeigt wird, wie ich mich mit meiner Ambivalenz versöhnen kann, um nicht Krieg gegen mich selbst zu führen. Die Annahme jeglicher Verwirrung, die ein Leben lang zu uns gehört, ist für den Trappistenmönch eine Chance für eine »geistliche Schwangerschaft, die zu einer mystischen Neuwerdung führt«.
Diese innere Einsicht ist entscheidend auf einem mystischen Weg, um glaubwürdig sich weltweit für den Frieden ein- und aussetzen zu können. Thomas Merton wehrt sich, wenn Meditation als narzisstischer Rückschritt verschrien wird. Das Eintauchen in das Schweigen ist für ihn genau das Gegenteil, nämlich »ein vollständiges Erwachen von Identität und enger Beziehung«. Der Dichtermönch erfährt eine tiefere Verbundenheit mit allem im staunenden Verweilen in der Schöpfung, weil für ihn die Vögel, der Himmel und der Wind in den Bäumen Gebet ist.
Gebet ist für ihn auch das Aushalten von Spannungen, es ist »Friede und Kampf in der Stille, und Glaube ist unendlich mehr als sich blindlings zu verteidigen mit einigen Schlagworten«. Diese innere Freiheit bewegt ihn zum Engagement für eine friedvollere Welt, das sich in einer Spiritualität der Konfliktfähigkeit ausdrückt. Im Hineinwachsen in jenes Urvertrauen, das zur Selbstannahme führt, weil Kritik, verschiedene Meinungen und gemeinsames Ringen zu einem inneren Weg gehören. Ein Friedensweg, der beginnt mit der Aufhebung der Trennung von Gott und Mensch. Ein Versöhnungsweg, der die Konkurrenz zwischen dem Willen Gottes und dem Willen des Menschen entlarvt, damit unsere Lebenskräfte fließen können, zum eigenen Wohlbefinden und zum tatkräftigen Friedenskampf.
Thomas Merton bestärkt mich dazu mit seinen klaren Worten: »Einer Sache bin ich mir sicher. Mein Leben muss eine Bedeutung haben. Diese Bedeutung entspringt einer schöpferischen und intelligenten Harmonie zwischen meinem Willen und dem Willen Gottes -eine Klärung durch die richtige Tat.«
Aus: Pierre Stutz, geborgen und frei. Mystik als Lebensstil. Kösel Verlag, München 2008.